Ein neues Gesetz sollte Diskriminierung von Intersexuellen beenden. Nun berufen sich auch Transsexuelle darauf.
Martin Vetter heißt in Wirklichkeit anders, er ist 20 Jahre alt, ein Mann mit weichen Gesichtszügen und blondem Haar. Martin Vetter ist mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren worden.
Aber er ist sich sicher, dass er keine Frau ist. Er nimmt Hormone und bereitet sich auf eine Brust-OP vor. Hinter ihm liegen tränenreiche Gespräche mit seiner Mutter und Phasen der Depression. Die amtliche Änderung seines Geschlechts im Mai 2019 hatte sich Martin Vetter als Abschluss eines schwierigen Prozesses vorgestellt. Tatsächlich war es der Beginn eines Dramas mit ungewissem Ausgang.
Nur vier Wochen dauerte Vetters Harmonie zwischen amtlichem und gelebtem Geschlecht. Dann kam ein Brief von seinem Standesamt in Nordrhein-Westfalen, Betreff: „Rückabwicklung der Änderungen nach § 45b PStG“. Der neue Paragraf des Personenstandsgesetzes, so teilte das Amt mit, gelte lediglich für intersexuelle Personen, also Menschen, die seit Geburt beide Geschlechtsmerkmale in sich vereinten und somit körperlich keinem Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können. „Personen mit transsexuellem Hintergrund“ könnten von der Regelung nicht profitieren. Man müsse das Geburtenregister folglich „berichtigen“ und aus Martin wieder Martina machen.
Als er das las, sei Panik in ihm aufgestiegen, erzählt Vetter. Bei mehreren Bekannten war doch das Geschlecht auf diesem Weg problemlos angeglichen worden. Die neue Regelung im Personenstandsgesetz gilt seit einem Jahr. 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht beschlossen, dass Personen, die sich dauerhaft weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen, diskriminiert werden, wenn der Gesetzgeber ihnen nur die Wahl zwischen dem Dasein als Mann oder Frau lässt. Die Regelung zur dritten Option sollte diesen Menschen die Möglichkeit bieten, sich im Geburtenregister
und im Reisepass statt männlich oder weiblich als »divers« zu definieren, wenn sie das Feld nicht offen lassen wollten.
Doch einige, die sich auf das Gesetz berufen wollen, fühlen sich nun erneut ausgegrenzt. Schuld ist eine unklare Definition der Personengruppe, die das Gesetz in Anspruch nehmen darf. Laut der Neuregelung in Paragraf 45b muss bei Antragstellern eine ärztlich attestierte »Variante der Geschlechtsentwicklung« vorliegen. Was das genau bedeutet, darüber wird nun gestritten.
Martin Vetter ist transident, er hat einen eindeutig weiblichen Körper, der aber nicht seiner Geschlechtsidentität entspricht. Er will als Mann durchs Leben gehen. Er legte dem Standesamt eine Bescheinigung seiner Hausärztin vor, die ihm eine »Variante der Geschlechtsentwicklung« attestierte. Dass die Änderung des Geschlechtseintrags kurz darauf wieder einkassiert wurde, liegt womöglich an einem Rundschreiben, das das Bundesinnenministerium im April verschickte.
In den »Anwendungshinweisen« präzisiert die Behörde, dass nur Menschen, die von Geburt an körperlich weder eindeutig männlich noch weiblich (also intersexuell) sind, Paragraf 45b auf sich anwenden dürften. Für Personen mit eindeutigem biologischen Geschlecht sei das Transsexuellengesetz maßgeblich. Das allerdings gilt als veraltet. Betroffene müssen zwei Gutachten von Sachverständigen vorlegen und vor einem Gericht die Gründe für die Personenstandsänderung erklären, ein Prozess, der sich über Jahre hinziehen kann. Die Kosten für die Begutachtung müssen die Antragsteller selbst tragen.
Julia Monro von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität hält dies für eine »mittelalterliche Methode«. Das Innenministerium vertritt dagegen den Standpunkt, dass für transidente Personen der Weg zu einem neuen Geschlechtseintrag nur über das Transsexuellengesetz möglich sei. In dem Schreiben aus dem Ministerium steht auch, Standesbeamte könnten bei berechtigten Zweifeln eine »Konkretisierung der ärztlichen Bescheinigung« verlangen. Martin Vetter weiß, dass der Standesbeamte mit seiner Ärztin gesprochen hat. Ohne seine Einwilligung und ohne sein Wissen, wie Vetter sagt. Er gibt an, seine Ärztin habe ihn danach sogar angerufen und erzählt, sie fürchte, dass sie jetzt in Schwierigkeiten gerate.
Dann bekam Vetter den Brief zur »Rückabwicklung«. Der Standesbeamte schrieb, er habe in der Praxis nachgefragt und für ihn sei »zweifelsfrei geklärt – auch wenn wir nicht über Namen und konkrete Fälle gesprochen haben«, dass Vetter nicht intersexuell sei. Nun sei das Geburtenregister »fehlerhaft«, er beantrage beim Amtsgericht eine Korrektur. Anders als das Innenministerium ist das Amtsgericht Dortmund der Ansicht, dass das neue Gesetz nicht ausschließlich körperliche Varianten der Geschlechtsentwicklung voraussetzt.
Allerdings ging es in diesem Fall um eine Person, die sich als divers im Geburtenregister eintragen lassen wollte. Solange das Gesetz nicht konkretisiert
wird, hängt es also vom Standesamt ab, ob ein Attest auch von Transsexuellen akzeptiert wird. Martin Vetter bereut mittlerweile, nicht den vermeintlich schwierigeren Weg über das Transsexuellengesetz gegangen zu sein. Aber er mag das, was er erreicht hat, nicht wieder verlieren. Er und seine Anwältin wollen das Vorgehen des Standesamts nicht akzeptieren und haben beim Amtsgericht Akteneinsicht beantragt. Eine Rückmeldung gibt es bislang
nicht.
Laura Backes, Anna Clauß
Mail: laura.backes@spiegel.de
anna.clauss@spiegel.de
Downloadlink: 2020_01_03_Ärztlich-attestiert.pdf
Quelle: https://www.spiegel.de/politik/deutschland-fuer-wen-gilt-das-gesetz-zur-dritten-option-a-00000000-0002-0001-0000-000168763966 (Magazin vom 03.01.2020)